Titel Lilliput Dampfspeicherlok
Berichtsart Modellkritik
Kurzbeschreibung  
Autor Christoph Oboth
Modellkritik: Lilliput Dampfspeicherlok

Es hat zwar gedauert, aber endlich ist ein vernünftiges Modell einer Industrielok in Großserie erschienen. Eine Dampfspeicherlok ist zwar nicht ganz sooo die typische Werklok, war aber dennoch schon lange überfällig.

Service und Aufrüstung:

Die hohen Erwartungen wurden auf den ersten Blick voll und ganz erfüllt. Abgesehen von den etwas plastikhaft wirkenden Trittstufen und Umlaufblechen keinerlei Beanstandungen (jedenfalls keine, die mit etwas Farbe nicht auch von ungeübten rasch beseitigt werden könnten) - das Meininger Vorbild wurde recht überzeugend wiedergegeben. Jetzt nur noch die Zurüstteile montieren - und schon erfährt der Wortschatz an Schimpfworten eine beträchtliche Erweiterung. Waren die Lilliput-Zurüstteile schon zu Wiener Zeiten hinsichtlich Stabilität eine reine Zumutung, so stellen die chinesischen Erzeugnisse eine unaussprechlich aberwitzige Steigerung dar. Man muß noch nicht einmal grob anfassen, um das Teil auf nimmerwiedersehen zu zerbröseln, es reicht ein vorsichtiges antippen mit dem Finger. Derart sprödes und zerbrechliches Material hatte noch nicht einmal Piko zu DDR-Zeiten zu bieten, und dabei war dies schon gefürchtet. Man fragt sich, ob die Teile nicht eventuell aus Gebäck bestehen...

Aber zum Glück sieht die Maschine auch ohne Zurüstteile hervorragend und vor allem: vollständig aus. Vor der Jungfernfahrt noch ein kurzer Blick in die Betriebsanleitung. Und schon ergeben sich neue Rätsel: Wie kann eigentlich das Gehäuse abgenommen werden? Wozu überhaupt eine Betriebsanleitung, wenn nichts, aber auch gar nichts über die irgendwann einmal notwendig werdenden Pflegemaßnahmen und Servicemöglichkeiten berichtet wird? Erkennbar ist anhand der Anleitung eigentlich nur folgendes: Aus irgendeinem Grund kann man mit dem Schraubenzieher die Kesselfront abbauen, um irgend etwas (vermutlich Digital-Decoder) einsetzen zu können. Anhand der Ersatzteilliste läßt sich erkennen, welche Gehäuseteile vermutlich zusammenhängen. Und vor Inbetriebnahme muß die Lok ausgepackt werden (!).

Fahreigenschaften:

Genug der Nörgelei, los geht´s. Der erste Eindruck ist sehr zufriedenstellend: Die Lok fährt genauso, wie man es von einer Rangierlok erwartet. Die Höchstgeschwindigkeit ist angenehm niedrig, der untere Geschwindigkeitsberich läßt sich bestens regeln. Auf der ausgedehnten Weichenstraße der Zechenanlage gibt es auch bei Schleichfahrt keinerlei Kontaktschwierigkeiten, die Stromabnahme ist also ausgesprochen gut. Etwas überraschend ist das Fahrgeräusch: Ein wenig rasselnd wie eine Kaffeemühle. Nicht direkt unangenehm, aber auffallend. Ein leises, etwas hohles Brummen halt. Die Maschine fährt außerdem ausgesprochen "hart", d.h., jede Gleisunebenheit fällt deutlich auf. Auf Weichen aber keinerlei Auffälligkeiten, die Lok fällt auch bei älterem Gleismaterial nicht in die tiefen Herzstücke. Bei Rückwärtsfahrt ist beim vorliegenden Exemplar ein leichtes Längsruckeln festzustellen, besonders bei größerer Last am Haken. Mit zunehmender Betriebsdauer ließ dies aber deutlich nach.

Belastungsprobe:

In der Ebene wird ohne weiteres ein 20-Wagen-Zug kurzgekuppelter Roco-Fad-Wagen weggezogen (sicherlich würden auch noch ein paar mehr funktionieren), in der Steigung ist bei ungefähr der Hälfte Schluß und die Lok bleibt wild schleudernd liegen. Wenn man berücksichtigt, daß die allermeisten Industriegleise auf Privatanlagen ohnehin nicht mehr als eine Handvoll Wagen verkraften, reicht die Zugkraft also völlig aus.

Ein Wort zur Farbgebung:

Das vorliegende Modell ("Museumsversion") ist in einem sehr hellen, matten grün mit gelben Zierstreifen gehalten. Der Farbton wirkt sehr glaubwürdig, am ehesten erinnert er an die Maschinen der Castrop-Rauxeler Rüttgerswerke. Eine zweite Variante wird ohne Zierstreifen, dafür aber in einem deutlich "quietschiegeren" Grün geliefert. Beide Farben waren beim Vorbild zu finden, letztlich sollte jeder selbst entscheiden, welche Farbe besser gefällt. Wie bereits gesagt, verdienen lediglich die Trittstufen und Umlaufbleche ein wenig Farbe, denn diese sind lediglich schwarz gehalten und sind scheinbar nicht lackiert. Viele Meininger Vorbildloks hatten dagegen Rote Frontstufen.

Bewertung:

Hätte Lilliput schon vor Jahren eine vergleichbare Antriebsqualität besessen, wäre die Pleite zu vermeiden gewesen. Wer jemals die wiener Lilliput-T9.3, die bisher den Rangierdienst auf der Zeche versehen hatte, im direkten Fahrvergleich sieht, weiß, wovon ich Rede. In optischer Hinsicht gibt es nichts zu meckern, fahrtechnisch eigentlich auch nicht. Wenn jetzt noch die Zurüstteile aus einem stabileren Material gefertigt würden und die Betriebsanleitung wenigstens das Öffnen der Lokomotive aufschlüsselte, blieben von meiner Seite keine Wünsche offen. Dazu kommt ein absolut moderater Preis: Im Ruhrgebiet liegt er zwischen 189 und 199 DM! Angesichts dessen ist zu erwarten, daß die Anschaffung auch der anderen Farbvariante beim Verfasser nicht mehr allzuweit entfernt liegt... Endlich einmal eine Lok ohne Staatsbahnherkunft! Der Mut Lilliputs, so etwas herauszubringen, sollte unbedingt honoriert werden - bleibt zu hoffen, daß bei guten Verkaufszahlen auch andere (großserien-) Industrie- oder Privatbahndampfloks nicht mehr im Bereich der Utopie liegen! Wie wäre es mit einer Elna 6, einer Krupp-Hannibal oder einer Krupp-Bergbau?

PS:
Bilder von echten Dampfspeicher-Lokomotiven finde sie im Eisenbahnbildachiv von RAILHOO